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22.01.2024

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Nora Tormann

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María Gutiérrez

Überlegungen zu Gewalt

Nora Tormann im Gespräch mit Carolina Mendonça

Performance als potentielle Probe zur Selbstverteidigung, Dramaturgien der Transformation und Sicherheit als Beziehungspraxis

Inwieweit können die darstellenden Künste einen Raum für die Auseinandersetzung mit (sexualisierter) Gewalt bieten? Was wird von Institutionen der darstellenden Künste erwartet, um ein sicherer(er) Raum zu sein? Was bedeutet es überhaupt, in einem Theater sicher zu sein? Wie verhalten sich Sicherheit und Fürsorge zueinander? Carolina Mendonça und ich sprachen über diese Fragen und versuchten, die unterschiedlichen Erwartungen, Konfrontationen und Potenziale zu entschlüsseln, die in den Rollen der Künstler:innen, des Publikums sowie der Institutionen und ihren jeweiligen Beziehungen liegen.

Unsere Gespräche sind im Kontext der ITI-Jahreskonferenz 2023 entstanden, die ich zusammen mit Berfin Orman zum Thema "Conflict & Care: dispute as part of transformation in the performing arts and their institutions" kuratierte. Wir luden Carolina ein, dort einen Roundtable zu moderieren.

Der folgende Text befasst sich mit sexualisierter Gewalt als Thema in der darstellenden Kunst. Der Text ist - notwendigerweise - unvollständig und wagt sich dennoch auf heikles Terrain.

 

 

Nora Tormann

Im Rahmen der Konferenz hatte der Begriff "Konflikt" mehrere Bedeutungen: Einerseits ging es darum, wie Institutionen der darstellenden Künste Konflikte und damit notwendige Transformationsprozesse hin zu gerechteren Strukturen scheuen oder gar unterdrücken. Andererseits berichteten einige der eingeladenen Künstler:innen und Kulturschaffenden von sehr spezifischen Konflikterfahrungen und wie sie innerhalb oder trotz der sie umgebenden Konfliktdynamik, Praktiken der Fürsorge entwickelt haben. Gemeinsam vereinten sie sehr unterschiedliche Ansätze zu der Frage, was ein Konflikt ist und welche Probleme und Potenziale damit verbunden sind. Was ist dein Verständnis von Konflikt?

Carolina Mendonça

 

Ein Konflikt entsteht in einer Situation des Unbehagens und der Uneinigkeit. Das wirft u.a. die Frage auf: Wie können wir unsere Unterschiede wahrnehmen, jedoch nicht versuchen eine gemeinsame Basis zu finden, die der Komplexität der Situation nicht gerecht wird?

Nora Tormann

Welchen Raum bieten die darstellenden Künste für diese Art von Konflikten?

Carolina Mendonça

Ich arbeite als Dramaturgin mit Carolina Bianchi y Cara de Cavalo und in der Entwicklung von "The Cadela Força Trilogy: Chapter I - The Bride and The Goodnight Cinderella" haben wir versucht, Wege zu finden, sexualisierte Gewalt performativ zu thematisieren. Carolina Bianchi und ich sahen die Notwendigkeit dafür eine andere Sprache zu entwickeln - nicht nur in Worten, sondern auch in Form von Praktiken und Bildern. Es wurde deutlich, dass es nicht nur eine Perspektive gibt, sondern immer mehrere. Es ist ein Konflikt zwischen privat/öffentlich und innen/außen. Eine der Arten, wie Gewalt funktioniert, ist, dass sie diese Unterscheidungen verwischt und es dadurch noch schwieriger wird, darüber zu sprechen. Das Theater wurde für uns zu einem Ort, in dem wir diesen Widerspruch aushalten konnten. Ich betrachte das Stück als einen kollektiven Raum, in dem wir alle in dieser Verwirrung verweilen, in dem wir Gewalt benennen und bei unseren Gefühlen bleiben können, während sie sich verändern. Wir geben keine Lösungen vor, und wir sind auch nicht an Heilung interessiert. Nicht, weil wir nicht an sie glauben. Aber für uns war die Aufgabe, zu sehen, was passiert, wenn wir wirklich bei der Komplexität der Gewalt bleiben?

 

Raum schaffen, um Gewalt zu reflektieren 

Nora Tormann

Wie stehst du zu Trigger-Warnungen, um das Publikum auf die Konfrontationen vorzubereiten, die es in einer Inszenierung erwartet?

Carolina Mendonça

 

Die Praxis der Trigger-Warnungen entspringt der Notwendigkeit, bestimmte Thematiken zu benennen und Menschen vorab darauf aufmerksam zu machen. Die Verwendung von Trigger-Warnungen suggeriert jedoch, dass man durch die Benennung die Kontrolle darüber hat, wie oder wodurch man getriggert werden könnte. Bei meiner Arbeit "Zones of Resplendence" beispielsweise sagen wir, dass es sich um ein Stück über sexualisierte Gewalt handelt und dass darin Nacktheit vorkommt - aber vielleicht reicht das nicht aus, um zu wissen, ob das jemanden triggert oder nicht. In jedem Fall birgt die Behandlung solch heikler und gewalttätiger Themen ein gewisses Risiko. Wir wollen Gewalt nicht reproduzieren, sondern umwandeln. Wir können dennoch nicht garantieren, dass wir für niemanden Gewalt reproduzieren. Es ist unmöglich, über sexualisierte Gewalt zu sprechen, ohne Gewalt zu thematisieren. Die Verwendung von Trigger-Warnungen ist eine Möglichkeit, aber ich denke, wir brauchen auch andere Instrumente, damit wir alle - das Publikum, die Institution und die Künstler:innen - das Risiko eingehen können, uns schwierigen Themen zu nähern.

Nora Tormann

An welche Art von Instrumenten denkst du? Wie können Künstler:innen und Institutionen dem Publikum einen Rahmen bieten, um sich diesen Themen zu nähern?

Carolina Mendonça

 

Die meisten dieser Instrumente müssen noch erfunden oder erprobt werden. Ein Ansatz könnte darin bestehen, einen physischen Raum zu schaffen, in dem die Menschen nach dem Stück zusammenkommen können. Ein anderer, ein Gespräch zu führen oder das Publikum an einem anderen Tag nochmals zusammenzubringen. Aber auch diese Instrumente ändern sich von Kontext zu Kontext und hängen von der Rahmung ab: Eine Erfahrung, die wir mit "The Bride and The Goodnight Cinderella" gemacht haben, war, dass ein Theater einen „sicheren Raum“ neben dem Stück eingerichtet hat. Dabei haben sie jedoch eine binäre Logik geschaffen: Im Gegensatz zum „sicheren Raum“, wurde das Stück nicht nur als gefährlich, sondern sogar als ein Ort konstruiert, der die Zuschauer:innen fast zwangsläufig verletzen würde. In diesem Kontext hatte das Publikum wirklich Angst das Stück zu sehen. In einem anderen Fall ging jemand vom Festival kurz vor Beginn der Show nach vorne und sagte: "Dies ist ein sehr gewaltvolles Stück. Wenn Sie sich nicht wohlfühlen, können Sie jederzeit gehen". Das war der Abend, an dem die meisten Leute während der Aufführung gingen. Wir als Künstler:innen sehen die Inszenierung als Ganzes und wünschen uns, dass es während der Performance eine kollektive Transformation gibt. Wenn man in der Mitte der Vorstellung geht, wird man diese Transformation nicht erleben. Vielleicht bleibt man in diesem Moment des Schmerzes. Das bringt mich zum Nachdenken darüber, wie wir nicht nur individuell, sondern auch kollektiv Verantwortung übernehmen. Ich frage mich, was passiert, wenn wir uns nicht sicher fühlen und uns aber erlauben, durch dieses Unbehagen zu gehen, ohne uns bereits zu schützen? Ich frage mich, ob Selbstschutz bedeutet, dass wir immer Abstand brauchen?

Nora Tormann

Einerseits höre ich dich darüber sprechen, wie Künstler:innen und Theater Räume schaffen und halten können, damit ein kollektives Verweilen in der Konfrontation möglich wird. Andererseits stellt sich die Frage, wie Dramaturgien der Transformation das Publikum dabei unterstützen können, Gewalt zu reflektieren? Damit denke ich an diesen Zustand, in dem man sich auf ein Thema einlässt und sich von ihm bewegen lässt.

Carolina Mendonça

Die darstellenden Künste sind ein mächtiger Kontext, in dem wir Gewalt nicht nur durch Diskurse ansprechen, sondern auch mit Affekten und Formen des Zuhörens arbeiten können. Wie können wir dem Publikum Zeit geben, bestimmten Erzählungen zuzuhören, in diesem Raum zu verweilen, ihre Perspektive zu wechseln, eine Haltung einzunehmen und uns dann zu widersprechen? Wir arbeiten mit einer verwirrenden Dramaturgie der Abbildung von Erzählungen. Wir haben verschiedene Arten der Aufmerksamkeit entwickelt, wie wir zuhören und wie wir über diese Geschichten sprechen können. Der Versuch, die Erzählungen anders zu formulieren, erfordert auch eine andere Vorbereitung darauf, wie ihnen zugehört werden kann.

 

Sicherer(er) Raum1 in den darstellenden Künsten

Nora Tormann

Das Konzept der "sichereren Räume" hat in der Mainstream-Kultur an Popularität gewonnen und auch in den Institutionen der darstellenden Künste Einzug gehalten. Wir haben über das Potenzial der darstellenden Künste gesprochen, sich mit heiklen Themen zu befassen, gerade weil sie in der Lage sind, intellektuelle, affektive und physische Formen der Reflexion miteinander zu verweben. Was bedeutet dies in Bezug auf die Etablierung von "sichereren Räumen" in Theatern?

Carolina Mendonça

Natürlich war es sehr wichtig, „sichere Räume“ zu fordern, und einige Institutionen der darstellenden Künste haben diese Forderung sehr ernst genommen. Ich denke jedoch, dass wir uns jetzt in einer interessanten Zeit der Krise des „sicheren Raums“ befinden: Sie fordert uns heraus, darüber nachzudenken, was sich innerhalb und was sich außerhalb des „sicheren Raums“ befindet. Ich glaube, die Theater werden sich mehr und mehr der Unmöglichkeit des Anspruchs bewusst - was nicht bedeutet, dass es keine Verantwortung oder Fürsorge gibt. Aber es bedeutet, dass es sich um eine komplexe Diskussion handelt und dass sie auf komplexe Weise behandelt werden muss. Fürsorge für das Publikum zu übernehmen, bedeutet nicht, dass es vor jeglicher Konfrontation mit Gewalt sicher ist.

Nora Tormann

Das hört sich so an, als ob Sicherheit die Abwesenheit von Konfrontation mit einem Konflikt bedeutet? Wenn dem so ist, würden wir erwarten, dass wir in öffentlichen Räumen wie Theatern in einer Weise sicher sind, die wir sonst in der Gesellschaft oder im Privatleben nicht erleben. Diese Erwartung können diese Räume unmöglich erfüllen, wenn sie nicht weltentleert sind. Anstelle der Abwesenheit von Konflikten ist es meiner Meinung nach wichtig, Sicherheit als eine relationale Praxis zu betrachten. Ich stelle mir Räume vor, die das Potenzial haben, gemeinsam in einem Konflikt zu verweilen oder in einen Konflikt einzutreten, aber in einem Kontext, in dem es eine Betreuung oder Unterstützung gibt, die dies begleitet. Unvermeidlich besteht auch das Risiko, dass dies scheitert, aber dann müssen wir gemeinsam Verantwortung übernehmen, um die nächsten Schritte zu finden.

 

Konflikt und Sicherheit innerhalb von Institutionen

Nora Tormann

Die Konferenz befasste sich mit der Frage, wie Institutionen Konflikte unterdrücken und damit auch den Wandel zu gerechten Strukturen innerhalb der darstellenden Künste. Oftmals geben Institutionen vor, offen, integrativ und sensibel zu sein, und dann stellt sich heraus, dass sie es nicht sind.

Carolina Mendonça

Die Institutionen - vor allem in Europa - haben endlich verstanden, dass sie andere Stimmen in den Diskurs einbeziehen müssen. Aber was bedeutet es, sie tatsächlich einzubeziehen? Es geht nicht nur darum, Raum für bestimmte Stimmen zu schaffen, sondern die gesamte Struktur zu verändern.

Nora Tormann

Es ist einfacher zu sagen, sich für neue Menschen und Perspektiven zu öffnen, als es tatsächlich zu tun. Natürlich ist die Transformation für die Institution unbequem, weil sie sich umstrukturieren muss. Es bedeutet, dass sich das dort arbeitende Team verändert. Es bedeutet, dass Teile des Programms eingestellt werden, um Platz für neue Ansätze zu schaffen. Es bedeutet, dass eine neue Kultur geschaffen wird. Ein Element ist auch, welche Art von Sprache und Tonfall wir gewohnt sind zu sprechen. Was wird erwartet, wie man sich in bestimmten Momenten verhält?

Carolina Mendonça

Ja, es ist notwendig Künstler:innen und anderen Stimmen einen sichere(re)n Raum zu bieten, damit sie Teil der Institution werden können. Es gibt viel Angst und viel Widerstand, weil manche Künstler:innen nicht "einfach" sind – dabei ist das eigentliche Problem, dass der Raum für sie nicht sicher ist. Mit all diesen stillschweigenden Vereinbarungen, wie wir miteinander reden sollten - ich meine, ich habe diesen Vertrag nicht unterschrieben?! Wir müssen bestimmte Vorstellungen von Macht und Hierarchie benennen, die eigentlich sehr gewalttätig sind. Und dann, in einem Rahmen, der bereits selbst Gewalt reproduziert, soll die:der Künstler:in dafür verantwortlich sein, einen sicheren Raum für das Publikum zu schaffen?

Nora Tormann

Wie das?

Carolina Mendonça

Unmöglich.

Nora Tormann

Innerhalb dieser Dynamik müssen wir fragen: Wie sind die Ökonomien der Verantwortung verteilt? Was ist die Verantwortung der Institution, die Sicherheitserfahrungen des Publikums in einem bestimmten Stück zu gewährleisten? Was ist die Verantwortung der:des Künstler:in - obwohl es für sie:ihn möglicherweise keinen Rahmen gibt, in dem sie:er sich mit ihrer:seiner Arbeit sicher fühlen kann? Was ist nötig, damit sie wirklich zusammenarbeiten können?

 

Darstellende Kunst als Probe zur Selbstverteidigung

Carolina Mendonça

 

Ich denke auch darüber nach, wie Theater ein Raum für die Einübung von Selbstverteidigung sein kann. Selbstverteidigung zu üben bedeutet, dass man sich mit Gewalt auseinandersetzt und dass man trainiert, um darauf vorbereitet zu sein. Das Training schafft eine fiktive Situation: Man probt, wie man sich im Falle eines Angriffs verteidigt. Diese Fiktion ist auch in den darstellenden Künsten sehr wichtig. Hier beschäftigen wir uns mit den Gefühlen und Erinnerungen, die ein Teil von uns sind, aber wir bringen sie in einen Raum, der andere Möglichkeiten beherbergt. In diesem Sinne ist es ein Ort für das Fiktive, und durch die Vorstellungskraft bereiten wir unsere Körper vor. In dieser Idee bin ich von der Arbeit von Elsa Dorlin2 inspiriert. Sie zitiert Frantz Fanon, der schrieb, dass die Kolonisierten in kolonisierten Kontexten nicht die materiellen Mittel haben, um sich zu wehren, aber sie träumen und denken ständig darüber nach, wie sie sich wehren können. Auf diese Weise bereiten sich ihre Körper auf den Moment der Selbstverteidigung vor. Ich glaube, dass das Theater das auch tut. Ein weiterer Gedanke, den ich von Elsa Dorlin übernommen habe, ist, dass sie fragt, woher die Gewalt kommt und wie das unsere Interpretation der Gewalt verändert. Ein Beispiel: Jemand wehrt sich, aber das wird als Gewalttat gewertet. In einem anderen Fall kommt es zu Gewalt, aber manche Menschen sehen sie nicht als solche an, weil sie normalisiert und Teil des Systems ist. Vor diesem Hintergrund müssen wir uns fragen: Von wem geht in den darstellenden Künsten eine Gefahr aus, und wer ist von dieser Gewalt bedroht? Ich denke, dass die Antwort unterschiedlich ausfällt, je nachdem, wer die:der Autor:in ist. Stücke, die Gewalt thematisieren und von Frauen, People of Color oder queeren Menschen inszeniert werden, gelten als gewalttätiger als Stücke, die von weißen Cis-Männern inszeniert werden.

Nora Tormann

Wenn man eine Performance als eine potenzielle Probe zur Selbstverteidigung betrachtet, frage ich mich, inwieweit dieser Vorschlag die Beziehung zwischen der:dem Künstler:in und dem Publikum verändert?

Carolina Mendonça

 

Bei den Proben zu "The Bride and The Goodnight Cinderella" haben wir uns mit verschiedenen Ebenen der Intimität und der Abgabe von Kontrolle beschäftigt. Der Prozess war also mit Risiken verbunden, die sich bereits verändert hatten, als das Publikum eintrat. Nichtsdestotrotz bleibt es eine Probe im Hinblick darauf, welche Art von Risiko es wert ist, eingegangen zu werden, wenn das Publikum dazu kommt. Das widerspricht der Vorstellung, dass Proben der Raum sind, in dem die Dinge vorbereitet werden und wir, wenn alles unter Kontrolle ist, das endgültige Stück zeigen. Es ist eine ganz andere Art der Aufführung, wenn wir Affekte, Emotionen und Gefühle einbeziehen. Wir können es dann nicht kontrollieren. Wir können nur eine gewisse Idee davon haben, wie es sich auswirken wird.

 

Das Potenzial des gemeinsamen Ausruhens

Nora Tormann

Ich liebe an den darstellenden Künsten, dass sie Raum bieten, um kleine utopische Momente zu schaffen und Möglichkeitsräume zu erproben. In der Entwicklung künstlerischer Praktiken entstehen kleine Manifestationen des Anderen zwischen Künstler:innen, aber ebenso mit dem Publikum und den Institutionen. Es gibt immer mehr Künstler:innen, aber auch Institutionen, die sich mit dem Ausruhen beschäftigen. Nach meinem Verständnis ist Ausruhen eine Praxis, die Hand in Hand mit Konzepten für sicherere Räume geht: Es kann ein Moment sein, der explizit dem Ziel gewidmet ist, sich von der Anstrengung zu erholen, sich ständig zu verteidigen oder zu schützen, um zu funktionieren. In diesem Zusammenhang denke ich an Elsa Dorlin, die ebenfalls davon spricht, dass Selbstverteidigung, entgegen der allgemeinen Annahme, nicht nur in einem bestimmten Moment ausgeübt wird, sondern in Wirklichkeit ein anhaltender Zustand ist: Das Fortbestehen einer massiv rassistischen, sexistischen, homophoben und transphoben Gesellschaft schafft einen andauernden Zustand der Gewalt.

Carolina Mendonça

Es stimmt, dass es nicht möglich ist, die ganze Zeit zu kämpfen. Wir müssen uns ausruhen. Das ist ein sehr interessanter Gedanke inmitten der Fragen, die wir hier diskutiert haben. Ausruhen ist keine Lösung, aber es ist eine Form der Fürsorge, die dazu einlädt, innezuhalten, so dass vielleicht andere Möglichkeiten auftauchen können. Ausruhen bringt auch etwas Wichtiges mit sich: Das Ausruhen in einem kollektiven Raum lässt notwendigerweise Verletzlichkeit zu. Ich denke, dass in Kontexten, in denen wir kollektiv verletzlich sind, eine Transformation stattfinden kann - und das ist nicht einfach und fühlt sich nicht immer sicher an.

 


1 Das Konzept der "sicheren Räume" hat seinen Ursprung in der queeren Szene der 1960er Jahre in den Vereinigten Staaten. Queere Menschen (und später auch andere marginalisierte Gruppen) schufen Räume, in denen sie unter sich waren und somit sie selbst sein konnten ohne diskriminiert zu werden. Als das Konzept der "Intersektionalität" (das die vielfältigen sozialen und politischen Identitäten einer Person berücksichtigt, die zu Kombinationen von Diskriminierung und Privilegien führen) den Diskurs erweiterte, verwandelte sich der "sichere Raum" in einen "sichereren Raum" - unter Berücksichtigung der verinnerlichten Strukturen und Praktiken der Diskriminierung, die wir alle in uns tragen, und der (derzeitigen!) Unmöglichkeit, vor Diskriminierung völlig sicher zu sein.

2 Elsa Dorlin: Selbstverteidigung: Eine Philosophie der Gewalt. Suhrkamp, 2020.

 

Carolina Mendonça hat einen Abschluss in Darstellender Kunst von der ECA-USP sowie einen Master in Choreografie und Performance von der Universität Gießen. Ihre neuesten Projekte sind „Zones of Resplendence“ (2023), das über feministische Perspektiven auf Gewalt spekuliert; „Pulp - History as a Warm Wet Place“ (2018), das sich mit einer intuitiven Archäologie der Überreste des XVII-XVIII Jahrhunderts beschäftigt; „useless land“ (2018), in dem sie zusammen mit Catalina Insignares das Publikum zum Schlafen einladen, während sie die ganze Nacht durch vorlesen.

Carolina war eine der Kuratorinnen von NIDO (2022) zusammen mit Suely Rolnik und Victoria Perez Royo; des Performing Arts Festival VERBO und Temporada de Dança. Sie arbeitet u.a. mit Künstler:innen wie Catalina Insignares, Marcelo Evelin, Marcela Santander, Dudu Quintanilha und Carolina Bianchi zusammen.

Nora Tormann arbeitet als Künstler:in, Dramaturg:in und Kurator:in an der Schnittstelle künstlerischer und theoretischer Forschung. Ein besonderes Forschungsinteresse gilt dabei Körpern als politischen und philosophischen Schauplätzen - wie ideologische Regime Körper formen und von ihnen geformt werden. Zuletzt entstanden der choreographische Audio-Walk „TURN – Kartographie einer Bewegung“ (2022) und „physical prospects“ (2021+2022). Als Tanz-Dramaturg:in arbeitet Nora mit Kollektiven und Solo-Künstler:innen und interessiert sich besonders für Praktiken der Fürsorge. Als Kurator:in konzipiert und organisiert Nora Konferenzen, Netzwerk- und Forschungsformate (u.a. Evaluationslabor „performing for peers“ im Auftrag des Fonds Darstellende Künste sowie Formate innerhalb der internationalen mobile Plattform „Celestial Bodies“ für interdisziplinären Austausch).
Nora hat einen Master in Darstellender Kunst (Listaháskóli Íslands) und einen Bachelor mit Schwerpunkt auf politischer Theorie, Gender Studies und Soziologie (University College Maastricht, Niederlande, und Tecnológico de Monterrey, Mexiko) abgeschlossen.